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uke und nage

von Joachim Galow

Uke und Nage sind Konzepte, die es uns ermöglichen, Aikidotechniken zu üben und auszuführen. Die Rollen scheinen klar verteilt zu sein: Nage wirft, Uke fällt, d.h. Nage ist aktiv und führt die Technik aus, Uke ist passiv und „empfängt“ sie (siehe die Definition in: K. Yoshigasaki, All of Aikido, S. 59).

Bei genauerer Betrachtung ergeben sich dabei jedoch einige Fragen. Sind die Rollen von Uke und Nage im Moment des Angriffs nicht genau umgekehrt? Ist Uke in der Technik wirklich nur im Schlepptau von Nage? Führt die Vorstellung von Aktivität und Passivität nicht zur Vorstellung von Angriff und Verteidigung und damit von Sieg und Niederlage? 

Wir sind darüberhinaus auch soziale Wesen, die ihre gesellschaftlichen Prägungen und individuelle Einstellungen mit auf die Matte bringen. Wir üben Aikido, um weiterzukommen und etwas dazuzulernen. Beeinflusst uns nicht manchmal auch die Vorstellung von Wettbewerb und Kräftemessen?

Uke und Nage scheinen also wesentlich komplexere Konzepte zu sein, als es zunächst erscheint.

Aikido und Sport

Wettbewerb und Kräftemessen sind in der Gesellschaft allgegenwärtig. Wir kennen sie auch vom Sport. Und da Aikido eine körperbetonte Kunst ist, nehmen wir manchmal eine eher sportliche Haltung beim Training ein. Viele Äußerlichkeiten wie Übungsmatte und -kleidung, Sporthalle, das Gegenüber von Uke und Nage und vor allem der Begriff „Kampf“ legen dies nahe.

Wir mildern solche sportlichen Elemente im Training zwar ab, indem z.B. Nage und Uke regelmäßig die Rollen tauschen. Auch sprechen wir nicht von Gegnern, sondern von Partnern. Wir verbeugen uns voreinander und veranstalten keine sportlichen Wettbewerbe. Aber bleibt nicht unbewusst die Vorstellung von Gegnerschaft und Vergleich mit Anderen bestehen? Und wie wirkt sich das auf unsere Aikidopraxis aus?

Aikido als Kampfkunst ist kein Sport. Sport erstrebt die Perfektionierung von Fertigkeiten, um im spielerischen Wettkampf mit anderen zu bestehen. Training und Wettkampf finden im Rahmen von Absprachen, Regeln und Formen statt, die sich auf die jeweilige sportliche Disziplin beziehen. Einzel- oder Mannschaftstraining simuliert Anforderungen an die Übenden, um den Gegner später im Wettkampf im Sinne der sportlichen Regeln zu besiegen.

Kampfkunst dagegen beschäftigt sich mit Möglichkeiten, in tatsächlichen Kampfsituationen zu überleben. Das kann man nicht realistisch üben, ohne Leben zu gefährden. Deshalb gibt es auch im Aikido Absprachen, Regeln und Formen, aber mit einem anderen Ziel: Die Simulation der realistischen Kampfsituation. Kampfbewegungen werden abstrahiert und ästhetisiert, um sie üben zu können. Sie bleiben aber im Kern, was sie sind. Verkürzt ausgedrückt: Sportliches Training simuliert das Spiel, Aikido-Training simuliert das Überleben in Gefahr.

Die inneren Haltungen im Sport und im Aikido als Kampfkunst unterscheiden sich deshalb grundlegend.

Die innere Haltung

Im Sport besteht zeitweilige spielerische Gegnerschaft mit dem Ziel, im Sinne der Spielregeln zu siegen. Aikidoka dagegen können keine Gegner sein, wenn sie Kampfsituationen erforschen und verstehen wollen. Sie müssen kooperieren.

Das setzt eine grundsätzlich andere Übungshaltung voraus als im Sport. Es geht nicht um ein (spielerisches) Kräftemessen oder darum, besser zu sein als andere. Ich muss in der Übung von mir absehen und mich auf die gesamte Situation voll einstellen. Wir verhandeln in der Übung nicht, wer es besser kann, sondern welche Bewegungen in der simulierten Kampfsituation für beide das günstigste Potenzial zum Überleben haben.

Die verschiedenen Einstellungen zeigen sich in vielen verschiedenen Situationen des Aikido-Trainings. Im Folgenden wird am Beispiel des Greifens und Haltens gezeigt, wie sich die innere Haltung auf das Üben auswirken kann.

Greifen und Halten mit Ki

Wenn kleine Kinder etwas festhalten, halten sie es entspannt und ohne starken Druck, aber sehr effizient. Von einem Moment zum nächsten lassen sie es los, so wie sich ein Blatt vom Baum löst.

Man kann es an sich selbst ausprobieren, indem man sein eigenes Handgelenk oder den Unterarm fasst. Ohne Druck „klebt“ die Hand entspannt am Arm und ist frei, sich jederzeit zu lösen. Trotzdem ist es sehr schwer, das Handgelenk dem eigenen Griff zu entwinden.

Dieses Greifen, Halten und Loslassen „mit Ki“ ist im Aikido universell. Nur so ist es möglich, in den Techniken mit dem Partner zu kommunizieren und frei zu bleiben in der eigenen Bewegung.

Greife und halte ich etwas (Nages Handgelenk, ein Bokken etc.), dann eigne ich es mir damit nicht an und versuche nicht, es zu beherrschen. Ich respektiere es. Ich kommuniziere über die Berührung mit dem Partner oder dem Bokken. Ich „höre ihm zu“.

Ich halte den Partner oder ein Bokken so, wie ich meinen eigenen Arm halten würde. Es fühlt sich an, als ob meine Hand mit der Oberfläche des Objekts (Arm, Hand, Jo, Bokken etc.) verschmilzt oder daran „saugt“ (siehe die Übung magnet). Der dabei physisch ausgeübte Druck wird nicht bewusst gesteuert.

„Sportliches“ Greifen und Halten

Ein fest zudrückender Griff kann gut gemeint sein: Uke macht den Angriff so realistisch wie möglich und drückt mit aller Kraft zu. Doch damit fixiert sich Uke auf den Angriffspunkt und beide Partner werden unempfänglicher für die Linien, an denen entlang sie sich bewegen können. Man könnte auch sagen: Das Ki stoppt. Ein solcher „Schraubstock“ führt leicht zu einem Kräftemessen und ist außerdem ineffizient. Selbst Anfänger sind schon nach wenigen Trainingseinheiten in der Lage, sich z.B. mit Tekubi Kosa Undo daraus zu befreien, blaue Flecke allerdings inklusive. Darüberhinaus geht so die Übung oft am Thema vorbei.

Aber auch beim Halten mit Ki ist die passende innere Haltung von Bedeutung. Uke könnte es z.B. nur als Trick einsetzen, um von Nage nicht bewegt werden zu können und so stärker zu erscheinen. Steigt Nage darauf ein, könnten beide leicht in Richtung sportliches Kräftemessen abbiegen und die gemeinsame Bewegung würde damit zumindest erschwert, wenn nicht sogar unmöglich.

Es besteht immer die Gefahr, im Übungsgeschehen falsch abzubiegen, weil die im Training erworbenen Fertigkeiten eben auch im Wettkampf gegeneinander einsetzbar wären. Das führt zu Verhaltensweisen, die eine sinnvolle Kommunikation behindern, wie Stoppen, Bremsen, Debattieren, Durchziehen, Abschotten. Sie sind alle auf eine Haltung zurückzuführen, bei der Kräftemessen und zu viel Ego im Spiel sind. Es kommt darauf an, sich solche Impulse bewusst zu machen und sie zu vermeiden. Denn es geht im Aikido-Training nicht um ein Gegeneinander, sondern um ein Miteinander.

Bewegungslinien, nicht Haltepunkte

Generell stoppt ein fester Griff zumindest momentan das Ki des Partners, denn der Fokus fixiert sich unwillkürlich auf den Haltepunkt. Das gilt auch für den Fall, dass Nage während der Technik zugreift, um Uke so in die Form oder Position zu bringen, die aus Nages Sicht der Technik äußerlich entspricht. Es ist dabei nicht relevant, ob die innere Haltung von Uke oder Nage oder von beiden dies ausgelöst hat. Es mag sein, dass Uke sich durch die Technik schleppen lässt oder ihr auf immer neue Weise widersteht. Es mag auch sein, dass Nage die Technik nicht optimal ausführt. Wichtig ist dabei vor allem, dass die Kommunikation zwischen Uke und Nage abbricht und aus einem fließenden Angriff ein punktuelles Kräftemessen wird.

Greifen und Halten sind im Aikido universell. Ohne Greifen sind viele Techniken auch auf Nages Seite nicht auszuführen. Ikkyo, Nikyo, Sankyo, Yonkyo oder auch Koteoroshi oder Shihonage, stets muss Nage zugreifen, um Ukes Ki zu führen. 

Diese „Griffe“ sind aber eigentlich mehr ein Halten mit Ki, mit dem eine Verbindung zwischen Ukes und Nages Bewegungszentren hergestellt wird. 

Nage greift also nicht im Sinne einer Manipulation, sondern dockt nur an Ukes Bewegung an und bewegt sich dann selbst aus seiner Körpermitte heraus.  Dies kann nur gelingen, wenn Nage stets spüren kann, wohin Ukes Ki geht, um es respektieren zu können. Packt aber Nage kräftig zu, geht diese Sensibilität verloren. Die Bewegungen von Uke und Nage sind nicht mehr optimal koordiniert. Die Kommunikation zwischen Uke und Nage ist dann auf den jeweiligen Haltepunkt reduziert, um dessen Kontrolle mehr oder weniger gerungen wird. Tendenziell geht dann die Technik in ein Zerren und Widerstehen über. 

Solange aber Uke und Nage kooperieren wollen und mit Ki greifen und halten, kann die Kommunikation zwischen ihnen bestehen bleiben. Uke wird sich nicht auf den Haltepunkt fixieren und kann so den Fluss des Angriffs aufrechterhalten. Nage wird nicht den physischen Haltepunkt bewegen wollen, sondern den Impuls des Angriffs in Bewegungslinien weiterführen.

Das Ziel ist Kunst, nicht Sport

So wird es möglich, dass sich die Übungspartner synchron und harmonisch bewegen und z.B. ein Tsuzukiwaza gemeinsam darstellen. Uke und Nage können so für sich selbst ein maximales Potenzial an Aufmerksamkeit und körperlicher Präsenz entfalten. (Siehe hierzu auch fudoshin und zanshin.)

Obwohl Ablauf und Form abgesprochen sind, entsteht ein interessantes Geschehen im Hier und Jetzt. So entsteht Kunst, d.h. etwas Drittes, das seine eigene Ästhetik und Sprache hat.

Anders gesagt: Uke und Nage spielen nach Noten, entscheidend ist aber die Musik.