von Joachim Galow
Vergleich zweier Bewegungskonzepte
Zum Halten und Führen des Bokken im Aikido lassen sich grob zwei Bewegungskonzepte beobachten. Sie scheinen sich zu ähneln, gehen aber von unterschiedlichen Voraussetzungen aus und haben grundsätzlich verschiedene Resultate. (Vergleiche hierzu K. Yoshigasaki, All of Aikido, S. 65-66.: Konzept von Punkt und Linie)
Die Unterschiede werden am Beispiel Shomenuchi verdeutlicht.
1. Schlagen, Schleudern und Stoßen
Das Bokken wird mit Kraft und Schwung als eine Art Stock oder Knüppel eingesetzt. Die Bewegung wird als Schlag oder Stoß geführt. Das zugrundeliegende Konzept ist hier, kontrolliert zusätzliche Kraft hinter das Eigengewicht des Bokken zu bringen, sei es Zentrifugalkraft oder Kraft der Arme bzw. das Körpergewicht.
Shomenuchi als Schlag
Shomenuchi wird hier durch weites Ausholen über Kopf und Vorwärtsschleudern geschlagen bzw. geschleudert, um eine möglichst starke Kollision zu erzielen. Durch die Luftreibung kann dabei ein eindrucksvolles Zischen entstehen. Die Bokkenspitze zieht eine Linie vom Rücken über den Kopf weit nach vorn. Die Muskeln von Armen, Hals und Schultern müssen das Ausholen und Schleudern jeweils ausgleichen oder verstärken. Die vorgestellte Bewegungsrichtung ist horizontal, also gegen den Partner gerichtet.
Die Bewegung sieht sehr kraftvoll und dynamisch aus und hat ihre eigene Ästhetik. Sie hat aber eine eher aggressive Intention, nämlich die starke Kollision mit dem Ziel. Die Kraftentfaltung ist dabei möglicherweise nicht optimal: Viel Kraft verpufft beim Ausholen und der Körper ist zusätzlich mit Ausgleichsbewegungen beschäftigt. Die koordinierte Körperhaltung mit freier Bewegungswahl wird für einen Moment aufgegeben.
Diese Verwendung des Bokken wird im Ki-Aikido nicht angestrebt, ist aber auch hier, insbesondere im Anfangsunterricht, manchmal zu beobachten.
2. Schneiden
Das Bokken wird als ein langes Messer verstanden, mit dem nicht geschlagen oder gestoßen, sondern geschnitten wird. (Hintergrundinformationen in: K. Yoshigasaki, All of Aikido, S. 419.) Die schneidenden Bewegungen werden in gedachten Linien und ohne Einsatz von zusätzlicher Kraft ausgeführt.
Dazu müssen sich, technisch gesehen, Körper und Arme optimal entspannt mit dem Bokken zusammen bewegen. Nicht das Bokken folgt meiner Willensanstrengung, sondern mein Körper folgt dem Bokken, das einer geistigen Linie folgt. Körper, Geist und Bokken harmonieren und werden als Einheit verstanden.
Handhaltung
Das Bokken wird so gehalten, dass seine Schneide die Außenlinien der Hände und Arme (Ellenseiten) verlängert. Das Bokken liegt auf den Kleinfingerballen und wird primär von Ring- und kleinem Finger gehalten („Außenhand“). Daumen, Zeige- und Mittelfinger („Innenhand“) umschließen das Bokken und haben primär die Aufgabe, entlang der gedachten Linien zu führen und mit dem Bokken zu kommunizieren. Dies ist im Prinzip bei allen Bewegungen mit dem Bokken der Fall. Bei seitlichen Schnitten verlängert das Bokken die Außenseite eines Arms, bei Schnitten von oben die Außenlinien beider Arme.
Die Handgelenke sind nicht gestreckt oder gebeugt, sondern gerade. Die Hände umklammern nicht das Bokken, sondern „kleben“ an ihm, als ob es magnetisch wäre. (Siehe hierzu K. Yoshigasaki, All of Aikido. „Ikkyu Undo“, S. 44 und zur Handhaltung am Bokken u.a. die Illustrationen auf S. 430 sowie die Übung magnet).
Shomenuchi als Schnitt
Zum Vergleich wird der Bewegungsablauf Schritt für Schritt erklärt: Aus der Grundstellung (Chudan) gehen die Arme so weit nach oben, dass kein Zug nach hinten entsteht (Jodan). Dabei öffnen sich Arme und Brustkorb (Atem strömt ein).
Die äußere Form verleitet hier u.U. zum Verwechseln der Bewegung mit einem Ausholen horizontal nach hinten. Es ist aber ein Öffnen und die Bewegungsrichtung von Händen und Bokken ist vertikal. Subjektiv entsteht das Gefühl, dass die Bokkenspitze jetzt vertikal über dem Kopf steht, denn die Hände folgen einer vertikalen Linie. Objektiv zeigt die Bokkenspitze leicht nach hinten, was nur scheinbar dem Konzept des Schleuderns entspricht.
Der Schnitt erfolgt, indem der Brustkorb mit den Armen schließt (Atem strömt aus) und die Außenlinien der Hände und die Körperrückseite dem fallenden Bokken vertikal nach unten folgen. Dadurch entsteht eine Bogenlinie des Bokken, auf der es schneidet.
Auch hier kann die Bewegung als Schleudern missverstanden werden, denn das fallende Bokken schnellt beim Schnitt nach vorne. Dies erfolgt aber nicht bewusst mit Kraft (Schleudern, Werfen), sondern unwillkürlich als Resultat der vertikalen Bewegung der Hände (Fallen).
Am Ende des Schnitts landet das Bokken in den „Außenhänden“. Das Gewicht des Bokken wird durch den reflexartigen Impuls des Kleinfingerballens mit den Fingern 4 und 5 neutralisiert, wobei eine kaum wahrnehmbare Schnittbewegung nach vorn entsteht. Auf diese Weise hält das Bokken ohne Ruck ruhig an, ohne bewusst gebremst zu werden.
Die Bewegung des Bokken geht nach unten. Deshalb kann sie mit Hauen oder Hacken verwechselt und von Übenden entsprechend imitiert werden. Sie ist aber ein Fallen des Bokken ohne zusätzliche Kraft.
Das Konzept gilt für die anderen Bewegungen des Bokken entsprechend. Stets wird es schneidend geführt. So ist auch Tsuki mit dem Bokken kein Stoß, sondern ein Schnitt nach vorn, und Yokomenuchi kein Schlag zur Seite, sondern ein seitliches Schneiden.
Das Bewegungskonzept des Schneidens unterscheidet sich damit fundamental von dem des Schlagens oder Stoßens. Im Ki-Aikido wird angestrebt, das Bokken schneidend zu führen.
Quellennachweis: Kenjiro Yoshigasaki, All of Aikido. Englische Ausgabe. Werner Kristkeitz Verlag, Heidelberg 2015.