von Joachim Galow
Raumwahrnehmung
Koordiniertes Bewegen im Raum setzt Wahrnehmung und Orientierung voraus. Sie werden möglich durch ein komplexes Zusammenspiel von Gleichgewichtssinn, räumlichem Sehen und Hören sowie haptischer Rückmeldung.
Bei ungeübten Personen sind diese Sinneswahrnehmungen voneinander abhängig. Bei entsprechender Übung können bis zu drei dieser Elemente wegfallen. Dann sind räumliche Orientierung und Koordination zwar eingeschränkt, aber grundsätzlich möglich. Ausgeblendete Sinneswahrnehmungen werden dann teilweise durch andere kompensiert.
Im Aikido üben wir dies auf verschiedene Weisen, um bei einem Angriff handlungsfähig zu bleiben. Wir versuchen, einzelne Sinneswahrnehmungen unbewertet zu lassen und damit in gewisser Weise auszublenden. Hierfür einige Beispiele aus dem Aikidotraining:
- Die Vorwärtsrolle erfordert den kurzzeitigen Verzicht auf gewohntes Gleichgewicht im aufrechten Stand. Auch fokussiertes Sehen wird zugunsten sphärischen Sehens aufgegeben. Die Rolle erfolgt in einen Zukunftsraum hinein, der im Rollen selbst nicht mehr visuell, sondern hauptsächlich über den Bodenkontakt der diagonalen Arm-Rücken-Beinlinie wahrgenommen wird.
- Bei einer anderen Übung wird mit geschlossenen Augen (ggf. auf den Fußballen oder einem Bein) stehend die Balance gehalten, um die Körperkoordination zu trainieren.
- Wir üben auch das unfokussierte Sehen, um unsere räumliche Wahrnehmung zu erweitern und die Fixierung auf die Angriffspunkte in der Technik zu vermeiden.
- Wir lernen, Angriffspunkte zu respektieren und damit aus der unmittelbaren Handlung auszublenden, um den zur Verfügung stehenden Handlungspielraum zu gestalten. (Siehe hierzu auch: Omote und Ura. In: K. Yoshigasaki, All of Aikido, S. 335)
Tricks versus ganzheitliches Lernen
So wichtig diese Übungen im Aikido sind, so bergen sie aber auch die Gefahr, sich auf körperliche Techniken zu konzentrieren, die den Wegfall von stabilisierenden Sinneseindrücken kompensieren sollen. So hilft z.B. das tiefe Stehen und bewusste Anspannen von Muskeln im unteren Rücken beim stabilen Stehen auf einem Bein mit geschlossenen Augen. Eine gute Übung, um die dafür notwendige Muskelkraft zu entwickeln und den Gleichgewichtssinn zu trainieren, mehr aber auch nicht. Denn ich liefere damit möglicherweise den Körper der Schwerkraft aus, fixiere mich mental auf die Technik und verliere für diesen Moment Autonomie und Beweglichkeit.
Wir laufen also im Aikido-Training u.U. Gefahr, Techniken zu üben, die uns einerseits helfen, komplexe Bewegungsabläufe zu meistern, die uns aber andererseits im dreidimensionalen Raum limitieren können. Ich stelle im Folgenden zwei Möglichkeiten vor, die helfen können, mit diesem Dilemma umzugehen.
Mentale Bilder
Eine Möglichkeit ist der Einsatz von mentalen Bildern, die es uns ermöglichen, von technischen Details abzusehen und ganzheitliche Bewegungskonzepte zu üben. Sie gestatten es, die Bewegungsausführung weitgehend dem Körper selbst zu überlassen. Beispiele dafür sind traditionelle Bilder wie z.B. Ki fließt, der unbeugsame Arm, das Konzept der mentalen Linien oder die mentale Vorstellung vom Öffnen und Schließen von Räumen. Da diese Bilder individuell verschieden wirksam sind, ist es die Aufgabe von Unterrichtenden, verschiedene Angebote zu machen, um möglichst viele Übende zu erreichen.
Am Beispiel des stabilen Stehens lässt sich die Effizienz mentaler Bilder gut zeigen. Statt nur einzelne Muskelgruppen bewusst zu machen oder technische Kniffe zu unterrichten, können mentale Bilder zum Einsatz kommen: Stehen ist kein „Stillstand“ und somit nicht statisch. Es ist ein Zustand, in dem die Bewegung so schnell ist, dass sie unsichtbar wird. Oder: Stehen ohne Gewicht. Der Körper wird nicht bewusst stabilisiert, sondern vom Raum gehalten, etwa in der Vorstellung eines unsichtbaren Netzes, in dem ich schwebe.
Mit Hilfe von mentalen Bildern kann also vermieden werden, dass Aikidopraxis nur Ausführung technischer Tricks ist. Die bildlichen Vorstellungen verbinden die technischen Erklärungen mit natürlichen Bewegungsmustern des Körpers. Sie helfen so auf ganzheitliche Weise, bestimmte Aikidobewegungen individuell einzuüben und zu automatisieren. Sie sind deshalb dem reinen Techniktraining überlegen und damit im Unterricht ein gutes Mittel, um Raumwahrnehmung und koordiniertes Bewegen im Raum zu schulen. So ist das Bild des unsichtbaren Netzes z.B. gut geeignet, den Übenden die Beziehung zum Raum körperlich erfahrbar zu machen, da es die eigene Position spürbar stabilisiert.
Mentale Bilder helfen also sehr gut beim Erlernen und Üben von Bewegungen und Techniken. Sie haben aber einen Nachteil: In der konkreten Praxis eines Angriffs sind sie kaum abrufbar. Sie sind insofern ein wertvolles Mittel in Übung und Unterricht, sind aber nur ein Schritt auf dem Weg zur Kampfkunst.
Zeitwahrnehmung
Eine andere Möglichkeit, Handlungsfähigkeit im Raum zu bewahren, ist die Schulung der Zeitwahrnehmung. Bewegungen finden stets in Raum und Zeit statt. Raum und Zeit sind keine fixen Einheiten, sie sind relativ. Ein kontinuierlicher Zeitfluss und fest definierte Räume sind aus subjektiver Sicht nicht gegeben. Die Zeit kann sich stauchen und dehnen, die Raumwahrnehmung ist stark abhängig von der Situation.
Im Aikido-Training strukturieren wir die Zeit der Bewegung im Raum. Um Aikido-Bewegungen leichter zu erlernen, versehen wir sie zur Übung mit Stopps und Rhythmus, z.B. indem wir zählen. Das hilft beim Erlernen der Techniken, aber es lässt sie ggf. auch in der Zeit erstarren, wenn wir diese Übungsgewohnheit nicht irgendwann wieder ablegen. Wir bewegen uns sonst von Punkt zu Punkt statt in Linien.
Im kunstvollen Zusammenspiel von Uke und Nage entsteht im Idealfall ein Zeitvakuum, in dem sie aneinander vorbeigleiten. Der Angriff bewirkt kein Erschrecken und Erstarren, sondern öffnet eine Tür in einen Raum ohne subjektive Zeitwahrnehmung, in dem Uke und Nage sich wie in einem Strudel gemeinsam entlang räumlicher Linien bewegen. Beide befinden sich für einen kurzen Moment nur im Raum, nicht aber in der Zeit. Es entsteht so eine Situation, in der der Angriff neutralisiert wird. Erst danach setzt die Zeitwahrnehmung wieder ein.
Das beschriebene Zeitvakuum geschieht nur im Moment der Bewegungsausführung. Davor und danach planen Uke und Nage Angriff und Technik im Sinne der abgesprochenen Reihenfolge der Techniken. So stellen sie gemeinsam die „Geschichten“ der Tsuzuki-Waza dar. Zwischen den einzelnen Techniken sollte aber die mentale Bereitschaft, in das nächste Zeitvakuum einzutreten, weiter erhalten bleiben. Es kommt darauf an, den Fluss der Bewegungsabläufe nicht zu unterbrechen. Die Kommunikation zwischen Uke und Nage bricht nicht ab. Die „Erörterung“ des Tsuzuki-Themas wird auch zwischen den einzelnen Techniken fortgesetzt.
Uke und Nage erschaffen die Kunstform der Technik nur, wenn es im Moment des Angriffs keine Erinnerung des unmittelbar Vorangegangenen gibt, die das Geschehen bremsen und die Entfaltung des vollen Potenzials der ausgeführten Bewegung verhindern könnte.
Es gibt jedoch in jedem Augenblick der Bewegung den Ausblick in einen möglichen Zukunftsraum: Wo ist Ukes Raum? Wo ist der Raum von Nage? Wo ist der safe space für mich? Wohin geht das Ki des Partners? Wohin gehe ich? Die Antworten auf diese kontinuierlichen Fragen sind die räumlichen Linien, denen beide folgen.